Rückwärtsfahrer: OLG Saarbrücken unterstreicht gesteigerte Sorgfaltspflichten - Rechtsanwaltskanzlei Herrle

2. November 2015

Entscheidungen Verkehrsrecht Aktuelles

Rückwärtsfahrer: OLG Saarbrücken unterstreicht gesteigerte Sorgfaltspflichten

 
OLG Saarbrücken, Urteil v. 22. Januar 2015 – 4 U 69/14
Ein rückwärtsfahrender Auto- oder Lkw-Fahrer haftet im Zweifel voll für einen durch eine Kollision mit einem Radfahrer entstandenen Schaden, selbst wenn der Radfahrer in falscher Richtung gefahren ist.
Die Klägerin fuhr mit ihrem Fahrrad auf einem sogenannten anderen Radweg (§ 2 Abs. 4 StVO), einem nicht benutzungspflichtigen Radweg, allerdings auf der linken Seite der Straße. Auf der Höhe einer Parkplatzeinfahrt kam es zur Kollision mit einem rückwärts in die Einfahrt einbiegenden VW Crafter. Die Klägerin erlitt trotz eines Fahrradhelmes schwere Kopfverletzungen und klagte gegen den Fahrer des Kastenwagens (und dessen Versicherung) auf Feststellung, dass dieser allein für den Schaden verantwortlich ist. Der Beklagte anerkannte lediglich eine Schuld wegen der Betriebsgefahr seines Fahrzeugs in Höhe von 30 %. Die Klägerin trage in jedem Fall eine Mitschuld, unter anderem weil sie das Rückwärtsfahren des VW Crafter rechtzeitig hätte bemerken müssen.
OLG: Keine Mitschuld der Klägerin erkennbar
Im Gegensatz zum Landgericht sah das OLG keine Mitschuld der Klägerin an dem Unfall, obwohl sie auf der falschen Seite gefahren ist. Unzweifelhaft habe der Beklagte gegen § 9 Abs. 3 und 5 StVO verstoßen. Als Linksabbieger hätte er äußerst sorgfältig darauf achten müssen, dass er keine anderen Verkehrsteilnehmer gefährdet. Das gelte auch für Rückwärtsfahrer. Er müsse so fahren, dass er notfalls bremsen und anhalten könne. Wegen der gesteigerten Sorgfaltspflicht spreche im Falle eines Unfalls der Beweis des ersten Anscheins für das Verschulden des Beklagten.
Dagegen spiele die Tatsache, dass die Klägerin auf der linken Seite gefahren ist (Verstoß nach § 2 Abs. 4 StVO), nur eine untergeordnete Rolle. Zum einen schütze die Norm nur den Gegen- und Überholverkehr, nicht aber den einbiegenden Beklagten. Zum anderen sei ein Mitverschulden der Klägerin, insbesondere dass sie die Gefahr eines Unfalls hätte vorhersehen können, nicht bewiesen. Denn das vom Landgericht eingeholte Sachverständigengutachten habe nicht aufgezeigt, dass die Klägerin den Unfall hätte vermeiden können. Für den nicht auszuschließenden Fall, dass sie sich zum Zeitpunkt des Anfahrens des Beklagten bereits auf der Höhe der Einfahrt befunden hat, wäre ihre Reaktionszeit vielmehr zu gering gewesen.